Es begann, wie so oft, mit einer genetischen Mutation. Erst seit rund 7500 Jahren bewahren sich erwachsene Mitteleuropäer:innen das Enzym, um Milch auch über das Säuglingsalter hinaus abbauen zu können. Die heutigen Milchbauern und -bäuerinnen nahmen ihren Anfang in den frühen landwirtschaftlichen Besiedelungen, und aus Natur wurde ganz allmählich Kultur und schliesslich das, was man heute Zivilisation nennt. Nicht mehr nur von Ernte und Lebensmittelvorräten abhängig zu sein ermöglichte Viehhaltern von da an das Überleben auch unter harschen klimatischen Bedingungen der weniger fruchtbaren, oft kalten und schneebedeckten Bergregionen. Sie und ihre Bewohner:innen stehen im Zentrum von Via Lactea des Schweizer Fotografen Alfio Tommasini. Gerade in den langen Wintermonaten, wenn Mensch und Tier in enger Symbiose unter einem Dach leben, besuchte er vornehmlich Kleinbauern und -bäuerinnen, aber auch Viehzüchter:innen in den voralpinen und Bergregionen sowie grössere Milch- und Besamungslaboratorien der Schweiz.
Via Lactea versammelt zwischen 2015 und 2019 entstandene tableauhafte Landschaftsfotografien sowie präzise und dennoch intime, den Bauern und ihren Nutztieren zugewandte Porträts von malerischer Qualität. Tommasinis Projekt unternimmt eine bildhafte Studie zum Verhältnis von Mensch, Tier und Topografie im Kontext einer sich rasant verändernden und zunehmend technisierten Land- und Milchwirtschaft. Denn hinter den urbanen Kulissen wohnten all die Menschen und Dinge, die eine Stadt brauche, um zu überleben. Die andere Seite der Medaille, das seien die durchorganisierten und digitalisierten Agrarwirtschaften, gigantische Warenlager und Datenzentren (Rem Koolhaas). Die nichtstädtischen Gebiete scheinen – im Positiven wie im Negativen – wieder einmal die Orte einer grossen Transformation zu sein. Via Lactea eröffnet einen Blick in einen Mikrokosmos dieser Peripherie, der keineswegs folkloristisch-romantisierend ausfällt, denn in den Bilddetails der Kleidung, der Werkzeuge und Maschinen blitzen subtil immer wieder die Insignien dieses technologischen, ko-evolutionären Umbruchs auf.