In Shane Lavalettes Bildern passiert etwas, das wir uns nicht gewohnt sind: Wir sehen unseren Alltag, diese Nebensache. Wir sehen noch etwas, das wir uns noch viel weniger gewohnt sind als Schweizer:innen: Durch fremde Augen entdecken wir die feine Spur Poesie, die unseren Alltag durchzieht. Die weichen Grashalme der Acker-Trespe. Rot blühender Klatschmohn. Giebeldächer in der Ferne. Lauter Nebensachen, die in ihrer Ganzheit aber etwas Abstraktes bilden, das wir Heimat nennen. Diese Heimat, mehr Gefühl als Bild, sehen wir in Still (Noon). Deshalb regt sich etwas im Innern und lässt nicht los.
Denn vertraut sind wir mit einem anderen Bildrepertoire, einem touristischen. Das Bergpanorama! Die Seen! Das Alpen-Edelweiss! Das Caquelon! Alles grossartige Dinge, aber sie sind nicht poetisch. Sie sind für die Fremdwahrnehmung bestimmt.
Im Mai 2017 suchte der Amerikaner Shane Lavalette im Auftrag der Fotostiftung Schweiz zwölf Gemeinden auf, um anhand dieser ein Land zu porträtieren. Er fotografierte in Carona, Gais, Rüderswil, Saignelégier, Saint-Saphorin, Sainte-Croix, Schwyz, Stammheim, Vicosoprano, Visperterminen, Wil und Zuoz – und folgte somit prominenten Fussstapfen. Vor rund achtzig Jahren legte Theo Frey, der wie Paul Senn und Gotthard Schuh zu den Klassikern der Schweizer Reportagefotografie gehört und als Europas Pionier der Langzeitdokumentation gilt, diese Route fest. Dieser "feinsinnige Chronist dörflicher Realität" (NZZ 1997, Nachruf) fotografierte damals für die Landesausstellung 1939. Still (Noon) vereint nun die neuen mit den ursprünglichen Bildern und offenbart einen ungewohnten Blick auf eine Nation. Es ist ein Blick, der berührt.