Die Weststrasse in Zürich: einst eine zentrale Transit-Achse, heute eine Quartierstrasse mit Tempo 30. Während mehr als 30 Jahren wurde der gesamte Nord-Süd-Verkehr quer durch die Stadt Zürich gelenkt–vorwiegend durch die schmale Weststrasse im Kreis 3. Mit der Eröffnung der Westumfahrung 2009 wurde das Quartier vom Durchgangsverkehr befreit. Die Weststrasse entledigte sich ihres Übernamens «Auspuff der Nation» und existiert fortan als Begegnungszone, wo geradelt und spaziert wird. Die Zürcher Fotografin Corina Flühmann hat diesen Wandlungsprozess seit 2007 dokumentiert. Weststrasse ist weder eine nüchterne fotografische Langzeitdokumentation noch ein bunter Street-Bildband. Vielmehr handelt es sich bei diesem Künstlerbuch um eine präzise Schilderung von Zürcher Soziodemografie. Porträtiert sind Männer, Frauen, Kinder, Junge und Alte, Schweizer:innen und Personen ausländischer Herkunft – in ihrem jeweiligen Wohn- und Arbeitsumfeld im Quartier.
Die renovierten Häuserfassaden haben die alten abgelöst, die Mieterstruktur hat sich verändert–vor allem dies verdeutlicht, wie rasch sich der Gentrifizierungsprozess durchgesetzt hat. Was unverändert blieb und das Strassenbild nach wie vor prägt: die jüdischorthodoxe Gemeinde und ihre Synagoge an der Ecke Weststrasse/Erikastrasse. In Weststrasse wird auch textlich über dieses prägende Stück Zürcher Geschichte berichtet. Die unter anderem mit dem Schweizer Buchpreis gekürte Schriftstellerin Melinda Nadj Abonji beschreibt in einem Essay, wie sie die Weststrasse in den Neunzigerjahren erlebte, als sie dort in einer WG wohnte. Roman- und Drehbuchautor Charles Lewinsky erzählt, wie er in den Fünfzigerjahren als Bub durch den Kreis 3 streifte, um an der Weststrasse Fussball zu spielen. Mit dem aktuellen städtebaulichen Aspekt setzt sich schliesslich der Journalist und Architekt Caspar Schärer auseinander.
Auszug aus dem Text von Melinda Nadj Abonji
West-Hemisphäre
Und ich frage mich, ob ich wirklich hier gewohnt habe, in diesem Haus, an der Weststrasse, die nicht mehr wiederzuerkennen ist, die so hübsch geworden ist, dass sie es gar nicht sein kann; müsste man sie umtaufen, die Weststrasse? die neue Weststrasse? Ja, das wäre hilfreich, etliche Häuser sind frisch gestrichen, der Bürgersteig ist so breit, dass man ihn, im Gegensatz zu früher, gemütlich begehen kann; einem Mann im ärmellosen T-Shirt rufe ich zu, ob er mir seine Hausnummer nennen könne, seine Antwort bestätigt, dass sein Balkon, auf dem er sich gerade vornüberbeugt, vor einem Vierteljahrhundert meiner gewesen ist; ich bin verwirrt, mir schwindelt in meiner Verwirrung, die Jahre drehen sich um meinen Kopf (wie schön sich die Zuckerwatte aufwickelt, wie stetig sich die Wanne oder der Kessel dreht, die Kraft der Zentrifuge, die für die zuckrige, fantastisch anzusehende Verwandlung verantwortlich ist), YA KE heisst das Glarner jetzt, ein China-Restaurant, dessen Frontseite noch mit «Restaurant z. Glarnerstübli» beschriftet ist – (der leichte Schwindel als Überbleibsel, wenn sich die Watte im heisshungrigen Mund fast in Nichts auflöst) –, zwischen dem Glarner und der West 156 stand ein Baum, eine Linde, Kastanie oder Platane, mein Kummerbaum, so habe ich ihn genannt: Er ist weg. Heute sind die Birken beliebt, modisch, so fällt mir ein, nur die Bäume wissen nichts davon, die weissstämmigen Birken, sie werden beinahe installativ gepflanzt, künftig sicher auch an der Weststrasse, diese zarten Zierbirken, vor ein paar Jahren wären sie nicht einmal denkbar gewesen, an der West. Es hätte nicht lange gedauert und die mageren Stämmchen wären verrusst gewesen, schwarz, nicht wie die Nacht, sondern dieses spezifische Schwarz von leck mich am Arsch, nichts wie weg hier!
Aber doch, damals hätte man sie pflanzen müssen, kurzfristig hätte man zeigen können, wie es sich hier lebt, mit Russ, Lärm, Feinstaub – stellen Sie sich Zitterpartien vor, das feingezackte Grün im Abpuff, wie mein Sohn sagt, der Mehrtönner; die innert kürzester Zeit ölig-schwarzen Stämmchen hätten die Architekt:innen, Städteplaner:innen und Synästhet:innen zu weitschweifigen Diskussionen angeregt. Sicher. Eine Studie wäre das Resultat gewesen, Die Birken im Inhalatorium der aufgestauten Mobilität.
Zwischen der West 156 und dem Glarnerstübli stand also ein Baum, ein breitstämmiger, nichts Birkiges, dessen bin ich mir sicher. Heute ist noch ein pilzbefallener Strunk von ihm übrig; die Vorstellung gefällt mir, dass das Glarner und die West 156 unterirdisch, durch das weit verzweigte Wurzelwerk immer noch verbunden sind, wie sie es damals durch die Baumkrone waren. Im Übrigen: Wie lange dauert es, bis die Wurzeln eines Baumes, der gefällt worden ist, vermodert sind? Oder leben die unterirdischen Verästelungen einfach weiter? [...]